Interpellation Benno Frauchiger (SP), Christa Ammann (AL):
Hintergrund:
Am 17. Oktober 2015, am Samstag vor den eidgenössischen Wahlen, war ich für verschiedene Besorgungen zu Fuss in der Stadt unterwegs. Verschiedenenorts liess ich mich aufhalten um einzelne Polizeieinsätze im Rahmen eines Grosseinsatzes gegen eine nicht bewilligte antifaschistische Kundgebung zu beobachten. Das mehrfache willkürliche und oft unverhältnismässige Vorgehen der Polizei gegen gewaltfrei agierende Kundgebende (hauptsächlich Jugendliche) erschütterte mich. Daraus entstand folgender Bericht mit ganz konkreten Fragen. Diejenigen Fragen daraus, welche in einem Zusammenhang stehen zum Polizeieinsatz gegen die Kundgebenden, sowie einige ergänzende Fragen haben Christa Ammann (AL) und ich gemeinsam als Interpellation eingereicht. Ganz allgemein frage ich mich aber: Wann und wo hört die Entwicklung zu zunehmender Polizeirepression auf? Und wer kontrolliert eigentlich das polizeiliche Gewaltmonopol und interveniert wie bevor wir schleichend im Polizeistaat enden?
Am Samstag vor den Wahlen vom 18. Oktober wollte ich nachmittags eigentlich ein Möbelhaus in der Innenstadt besuchen. Auf dem Weg dahin, bei der Bollwerk-Passerelle realisierte ich, dass die Bollwerkstrasse aufgrund einer angesagten Demonstration gegen Faschismus gesperrt ist. Weit und breit waren keine Demonstranten in Sicht, aber an jeder Ecke standen Gruppen von Polizisten in Kampfmontur. Weil nichts weiteres geschah, setzte ich meinen Weg fort. Unten bei der Passerelle angekommen sah ich, wie ein knappes Dutzend solcher Polizisten zwei minderjährige Jugendliche kontrollierten. Ich blieb stehen, um den Einsatz zu beobachten. Bald wurde ich von einem Polizisten (Herrn F., Name dem Autor bekannt) freundlich aufgefordert meinen Weg fortzusetzen. Ich erklärte ihm, dass ich Stadtrat sei und den Polizeieinsatz gerne beobachten würde, worauf er meine Identität kontrollierte und einwilligte. Der Anlass für die Personenkontrolle war mir nicht bekannt, die beiden Jugendlichen machten weder einen gewaltbereiten Eindruck, noch schienen sie eine Bedrohung für Personen oder Sachen darzustellen. Der Auftritt der Polizei wirkte hingegen bedrohend und einschüchternd, deshalb schien es mir zum Schutz der Jugendlichen vor allfälliger Polizeigewalt angebracht, den Einsatz aus angemessener Distanz zu beobachten, ohne dabei die Arbeit der Polizei zu behindern oder mich einzumischen. Es ist aufgrund verschiedener Gerichtsurteile hinlänglich bekannt, dass die Berner Kantonspolizei selbst gelegentlich Mühe hat, die rechtsstaatlichen Grenzen einzuhalten.
Die Jugendlichen wurden durchsucht, mussten sämtliche Taschen leeren, ihr Hab und Gut auf dem Boden ausbreiten und ihre Identität wurde aufgenommen. Auch wenn die Personenkontrolle unnötig lange dauerte und als solche klar schikanös und einschüchternd war, und auch kein ersichtlicher Grund für die Kontrolle vorlag, verlief sie scheinbar weitgehend korrekt. Allerdings wurde den Jugendlichen im Rahmen dieser Kontrolle ein Paket Zigaretten und eine Flasche mit hochprozentigem Alkohol abgenommen. Gegen 14.35h durften die beiden Jugendlichen ohne Alkohol und Tabak wieder weitergehen, worauf auch ich wieder meinen Weg fortsetzte.
Fragen:
Ich ging also weiter die Bollwerkstrasse hinauf Richtung Möbelhaus. Auf Höhe Neuengasse kam mir nun ein kleiner, friedlicher Demonstrationszug entgegen. Es gab nur ein einziges Transparent und keine vermummten oder bedrohlich wirkenden Personen. Die Demonstration zog in die Neuengasse ohne Anzeichen für beabsichtigte Sachbeschädigungen oder andere Formen von Gewalttätigkeiten, so dass ich aufgrund des grossen Polizeiaufgebots in der Stadt spontan beschloss, auch hier am Rande beobachtend mitzulaufen. Ein Strassenkünstler war enttäuscht, dass durch den Demo-Umzug seine Performance unterbrochen wurde, ein Schuhgeschäft räumte vorübergehend seine Schuhauslage in den Laden. Plötzlich kam der Zug kurz ins Stocken, wenig später rannten die meist jugendlichen Teilnehmer/innen durch eine Quergasse Richtung Spitalgasse. Erst jetzt sah ich geradeaus auf dem Waisenhausplatz einen Kastenwagen der Polizei. Die gewaltfrei, aber ohne Bewilligung agierenden Kundgebenden waren offensichtlich nicht an einer Konfrontation mit der Polizei interessiert. Mir weckte das Polizeiaufgebot hingegen das Interesse, so dass ich mit Umweg über den Waisenhausplatz erst später die Spitalgasse erreichte, wo ich dann noch beobachten konnte, wie Gitterfahrzeuge der Polizei mit erheblicher Geschwindigkeit Richtung Baldachin unterwegs waren und kurz darauf einen Teil der Kundgebenden gegen den Loeb einkesselten. Obwohl eingekesselt blieben diese ruhig und setzten sich hin. Ein anderer Teil der Demonstrierenden verblieb ausserhalb des Polizeiaufgebots zusammen mit unzähligen Schaulustigen. Von einem Einsatzleiter versuchte ich den Grund dieses massiven Einsatzes zu erfahren. Einziger Grund schien das generelle Kundgebungsverbot, worauf ich bemerkte, dass ich aufgrund des friedlichen Verhaltens der Jugendlichen diese Form von Einsatz absolut unverhältnismässig erachte. In den Tagen davor hatten die CVP und die Pegida ebenfalls trotz Kundgebungsverbot demonstriert, wurden aber nicht annähernd ähnlich behandelt.
Eine halbe Stunde lang geschah dann genau nichts, die Eingekesselten wurden einfach wie Tiere in einem engen Käfig gehalten. Trotz dieser Zermürbungstaktik blieben sie ruhig. Einzig ein älterer alkoholisierter Herr ausserhalb der gegen die Schaulustigen gerichteten Polizeiabsperrung ergoss sich verbal und gestikulierend gegen die mit Gummischrot und Tränengas bewaffneten Polizeisoldaten. Irgendwann wurden mehrere weisse Kastenwagen angefahren, welche vermutlich vor allem als Sichtschutz zwischen dem Käfig mit den Kundgebenden und den Schaulustigen aufgestellt wurden. Und irgendwann zog ich dann weiter Richtung Möbelhaus in der Schauplatzgasse. Aus Neugier betrat ich davor aber noch den Loeb, und beobachtete aus dem Laden heraus, wie Einzelne der Eingekesselten ähnlich wie zuvor die beiden Jugendlichen bei der Passerelle von der Polizei durchsucht, kontrolliert, dann aber wieder laufengelassen wurden, worauf ich die Szene verliess.
Fragen:
Weil ich mittlerweile einige Zeit im Beobachtermodus verloren hatte und vor einer Verabredung um halb sechs noch im Türmlischulhaus meine Stimme für die eidgenössischen Wahlen abgeben wollte,
reichte es nur noch für einen erfolglosen Kurzbesuch im ursprünglich anvisierten Möbelhaus. Daraufhin machte ich mich über den Bubenbergplatz wieder auf den Heimweg. Erst jetzt merkte ich, dass
auch vor dem Gotthardkino ein riesiges Polizeiaufgebot im Einsatz war. Auch hier wurden offenbar Personen eingekesselt, ohne dass eine Gewaltbereitschaft seitens der Eingekesselten sichtbar
gewesen wäre. Soweit es überhaupt möglich war, durch eine doppelte Reihe an Kastenwagen einen Blick auf den Kessel zu werfen. Dies ganz im Gegensatz zu den mit Gummischrot und Tränengas
bewaffneten Polizisten, welche hier wie schon in der Spitalgasse ein zuweilen aggressives Verhalten gegenüber den Schaulustigen an den Tag legten.
Wieder zuhause in der Hallerstrasse, machte ich mich kurz nach vier Uhr auf den Weg zum Türmlischulhaus um meine Stimme für die eidgenössischen Wahlen abzugeben. Beim Verlassen des Wahllokals begegnete ich dem Stadtschreiber, welcher mit einer ausländischen Delegation aus Nigeria das Wahllokal im Türmlischulhaus besuchte. Diese wollte sich offenbar ein Bild vom Funktionieren der Schweizer Demokratie machen.
Fragen:
Auf dem Heimweg vom Wahllokal spazierte ich an der Zähringermigros vorbei, wo sich - wie an einem Samstagnachmittag üblich - viele Personen, insbesondere Jugendliche, aufhielten. In der Gesellschaftsstrasse stiess ich auf eine Stadtratskollegin, mit der ich mich kurz unterhielt. In der Zwischenzeit hatte sich offensichtlich in der Begegnungszone der Mittelstrasse ein Demozug formiert und zog Richtung Länggassstrasse. Wir waren amüsiert darüber, dass die Kundgebenden der Polizei offenbar ein Schnippchen schlagen wollten, indem sie sich spontan in einem Aussenquartier versammelten, wo ihre Kundgebung kaum als störend bezeichnet werden kann, und wo im Gegensatz zur Innenstadt kein Polizeiaufgebot bereitstand. Wir werteten dies als klares und intelligentes Statement der meist jugendlichen Teilnehmer/innen, dass sie sich die verfassungsrechtliche Versammlungs- und Kundgebungsfreiheit nicht durch die Polizei nehmen lassen und dass sie es gleichzeitg aber nicht auf eine Konfrontation mit der Polizei abgesehen haben, sondern friedlich ihr Anliegen zum Ausdruck bringen wollten. Wir beschlossen sodann dem kleinen, übersichtlichen Demozug beobachtend zu folgen. Schliesslich waren auch hier keine "vermummten Chaoten" dabei. Auch hier konnte ich keine Form von Gewalt gegen Personen oder Sachen feststellen. Für die Café-Besucher/innen in der Mittelstrasse war die Kundgebung mehr Unterhaltung als Störung.
In der Länggassstrasse zog die Kundgebung Richtung Innenstadt, dem entgegenkommenden Verkehr wurde Platz gemacht. Es dauerte aber nicht lange bis die Polizei die Länggassstrasse abriegelte und sich auf der Höhe Hallerstrasse wartend positionierte. Da seitens der Kundgebungsteilnehmenden offensichtlich weiterhin keine Absicht bestand, sich mit der Polizei zu prügeln, schwenkten sie links weg in den Sennweg, und somit zurück ins Quartier. Mehrere Kastenwagen der Polizei brausten daraufhin in die Hallerstrasse, offensichtlich mit der Absicht, den Kundgebenden von der anderen Seite entgegenzutreten. Vermutlich um zu verhindern, im Sennweg eingekesselt zu werden, rannten diese plötzlich Richtung Gesellschaftsstrasse um vor der Polizei dort zu sein. Von dort würden sich mehrere Ausweichmöglichkeiten bieten. Da ich nun (16.39h) eine Eskalation durch die Polizei befürchtete, schickte ich einem Mitglied des Gemeinderats ein SMS, mit der Bitte, den Sicherheitsdirektor aufzufordern, den Polizeieinsatz sofort abzubrechen. Leider hatte ich die Nummer vom Sicherheitsdirektor nicht. Beim Versuch diese dann im Internet nachzuschauen fiel der Akku meines Telefons aus. Wenig später waren Gummischrotschüsse aus der Gesellschaftsstrasse zu hören. Die Kundgebung löste sich darauf schnell auf. Bevor ich nach Hause ging, warf ich nochmals einen Blick in die Mittelstrasse. Die Kundgebenden wie auch die Einsatzkräfte der Polizei schienen sich gleichermassen im Quartier zu verteilen und standen allesamt eher ratlos in einzelnen Gruppen rum. Bei der Ecke Mittelstrasse/Zähringerstrasse stritten sich ein paar Frauen wegen eines illegal auf einem privaten Parkfeld abgestellten Autos. Da dieser Streit die anwesenden Polizisten nicht zu interessieren schien, versuchte ich schlichtend einzugreifen und die Parkplatzeigentümerin zu beruhigen und gleichzeitig die Parksünderin zum Freigeben des Parkplatzes aufzufordern.
Ich hatte genug gesehen und ging wieder nach Hause in die Hallerstrasse, wo ich meinen Akku wieder aufladen konnte und bat, wenn auch etwas spät, um 17.06h den Sicherheitsdirektor - dessen Nummer ich in der Zwischenzeit erhalten hatte - den Polizeieinsatz abzubrechen. Dieser Einsatz erinnerte mich in seiner Unverhältnismässigkeit an Polizeieinsätze in Iran nach den angeblich manipulierten Präsidentschaftswahlen. Im Gegensatz zu Iran waren in Bern anlässlich der Wahlen allerdings nicht einige tausend Jugendliche friedlich auf der Strasse, sondern im besten Fall ein paar Hundert. Das Kundgebungsverbot galt in Bern gleichermassen wie in Teheran. Und als die Demonstrationen in Iran während meines Besuches im Dezember 2009 wieder aufflammten, wirkte die Polizeipräsenz in den Strassen auf mich nicht annähernd so bedrohlich wie 2015 in Bern.
Fragen:
Benno Frauchiger, Bern 29. 10. 2015
Kandidat Grossratswahlen Stadt Bern
27. März 2022
We Need Trees Association
Treasurer
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